In diesem Post zur Rubrik „Stories“ thematisieren wir die Frage, was den Tennisprofi von den Spielern, die ihr Talent auf den kleineren Turnieren zur Schau stellen, unterscheidet.
Um Vorurteilen vorzubeugen: es ist sicherlich die Athletik, vielleicht auch die Technik. Auf jeden Fall ist es die Einstellung. Was diese Einstellung kennzeichnet, kann die folgende Episode verdeutlichen.
Ein 17-jähriger deutscher Jungprofi spielte zumAbschluss einer ATP-Turnierserie in Brasilien. Das letzte Turnier vor dem Masters fand in Sao Paolo statt. Er hatte die erste Runde gewonnen und konnte sich mit dem nächsten Sieg für das anvisierte Ziel qualifizieren - und damit einen gewaltigen Sprung nach vorn in der Weltrangliste machen.
Das Profitalent trat dazu gegen Raul Viver an, einen Davis Cup-Spieler aus Ecuador, der im Profi-Circuit schon längst Wurzeln geschlagen hatte.
Der erste Satz war hart umkämpft. Bei 5:5 und Einstand schlug Viver auf. Nach seinem tief aus dem Platz geschlagenen Service rückte der Südamerikaner an das Netz vor. Der Deutsche war zu einem riskanten Return gezwungen. Aus dem Spielfeld getrieben, hämmerte er seine Vorhand die Außenlinie entlang. Unerreichbar für seinen Kontrahenten landete der Ball im Linienbereich. Spontan und laut entschied der Schiedsrichter: “Out! – Advantage Viver.“
Viver zog seine linke Augenbraue skeptisch hoch und schritt dann gelassen zum Ballabdruck. Er beugte sich kaum herunter, schaute nur kurz auf den Ort, wo der Ball gelandet war. Dann drückte er seine Einschätzung deutlich und entschlossen damit aus, dass er die Handfläche mit geschlossenen Finger nach unten drückte. Die Geste für „in”!
Der Schiedsrichter schien verwirrt, korrigierte aber nach kurzer Diskussion mit dem Ecuadorianer sein Urteil: Unser Talent gewann danach den ersten Satz 7:5.
Auch in dem zweiten Satz kämpften die beiden Konkurrenten auf ausgeglichenem Niveau. Der Tiebreak war die logische Konsequenz.
Bei 6:5 servierte Viver zum Satzgewinn. Diesmal entwickelte sich ein aufregend langes Grundlinienduell. Als der Südamerikaner dann einen Ball etwas zu kurz zurückspielte, griff sein Gegner mit einem platzierten Schlag an. Schon bevor der Ecuadorianer den Ball zurückschlug, ertönte das scharfe Urteil des Unparteiischen: „Out!“
Viver verschlug den Passierball – aber sein Gegenüber hatte sich schon enttäuscht abgewandt und auf den Weg zu seiner Bank gemacht. Für ihn war der Satz verloren.
Nicht für Viver.
Noch einmal korrigierte er die Entscheidung des „Umpires“ zu Gunsten seines Kontrahenten!
Der gewann die nächsten beiden Punkte, den Satz, das Match.
Er hatte das Masters erreicht, eine große Zahl an Weltranglistenpunkten gesichert und war auf seinem mühsamen Weg in die Top 100 der Weltrangliste entscheidend vorangekommen.
Überrascht von den ungewöhnlichen Ereignissen, blieb ich als Coach des jungen Deutschen noch etwas länger auf meinem Platz auf der Tribüne sitzen.
Als Raul Viver die Arena verließ, sprang ich auf, stürmte die Treppen hinunter und setzte dem Südamerikaner auf seinem Weg in das Clubhaus nach. Kurz vor dem Eingang hatte ich ihn erreicht, klopfte ihm auf die Schulter und fragte ihn unvermittelt und bar jeder Höflichkeit, warum er so über alle Maßen fair gehandelt hatte. Nach kurzem Zögern, gab er bereitwillig Auskunft: Er hatte sich bei seinen etablierten Kollegen aus der Profizunft über seinen jungen Gegner erkundigt. Alle hatten geäußert, dass dieser bisher als ein außergewöhnlich fairer Spieler aufgefallen sei – im Gegensatz zu den anderen „Wild Boys“, die in die Weltrangliste stürmten.
„Ist es nicht einleuchtend und logisch, dass wir erfahrenen Profis die aufstrebenden Talente unterstützen, die mit ihrem Verhalten dafür sorgen, dass es auch in Zukunft fair und professionell auf den ATP-Turnieren zugeht?“
Er erläuterte diese professionelle Einstellung noch deutlicher:
„Wir haben keine Lust, um jede knappe Entscheidung verbal streiten zu müssen! Das kostet unnötige Energie. Es vermindert nur die Konzentration auf das Wesentliche. Wir ziehen uns die jungen Spieler heran, die auch in Zukunft dafür sorgen, dass es eine gemeinsame Basis für unsere Wettkämpfe gibt!“
Jetzt hatte auch ich endlich begriffen.
Viver hatte so ungewöhnlich fair entschieden, um in erster Linie überflüssige Störungen und unnötigen Stress im Match zu vermeiden.
Im zweiten Schritt hatte er sich über die Gegenwart hinaus Gedanken gemacht und seine Handlungen auf eine sinnvolle Zukunft seines Berufsfeldes ausgerichtet.
Hier offenbarte sich mir ein wahres professionelles Denken, das Verantwortung für das Tätigkeitsfeld übernimmt und auch dessen Zukunft sichern will.
Während der Ballwechsel ist der Gegner der Kontrahent, den man mit seinen sportlichen Mitteln besiegen will.
Dabei hält man sich an die Regeln des Spiels.
Wenn Probleme auf der Regelebene entstehen, wird der Gegner zum Berufskollegen. Im Interesse einer Sicherung der gemeinsamen Zukunft wird die Leistung des Kollegen anerkannt, auch – oder gerade – wenn der Schiedsrichter sich eine Fehlentscheidung geleistet hat.
Die erste Regel, die man aus dieser Episode ableiten kann, lautet:
In dem Profitennis gibt es ein System, das von den internen Absprachen der Akteure geprägt ist.
Betritt man als „Newcomer“ dieses Gebiet, sollte man sich vorher gut informieren, um diesem Verhaltenscode nicht zum Opfer zu fallen.
Die zweite Regel, die sich aus der Geschichte ableiten lässt, hat mit der professionellen Einstellung zu tun:
Der Berufsspieler hat nicht nur seinen eigenen kurzfristigen Fortschritt vor Augen, sondern übernimmt auch langfristige Verantwortung für das Gesamtsystem, in dem er agiert.
Er übernimmt Verantwortung, weil diese Einstellung auf Dauer die Karrieren aller Spieler stressfreier und damit lebenswerter gestaltet – und die individuelle Leistung, den Sport und sein Image fördert!
Auf dem Platz wird mit sportlichen Mitteln gegeneinander gekämpft – außerhalb des Platzes ist man solidarisch!
Die erfolgreichen Profis verstehen sich als Berufskollegen ihrer Kontrahenten.
Häufig hatte ich später auf Jugendturnieren in der Provinz an Vivers Ausführungen denken müssen, wenn die „lokalen Hoffnungen“ laut und hysterisch um Entscheidungen stritten.
Wenn Eltern oder Trainer zum kurzfristigen Vorteil ihrer Schützlinge auch noch von außen in die verbalen Auseinandersetzungen eingriffen, sich gegenseitig unflätig beschimpften oder sogar Schläge androhten.
Wenn die unerfahrenen Akteure in der Folge auch noch den ahnungslosen Forderungen ihrer laienhaften Betreuer auf Ach und Krach folgten und den Tennisplatz teils zum Kriegsschauplatz, teils zur Talkshow umfunktionierten.
Wenn Tennis weder Spiel noch Sport ist, sondern unsinniger Stress wird. Sind wir uns einig, dass dieser unnötige Stress auf Dauer nicht zum Erfolg führt?
Es lebe die Einstellung von Raul Viver!
Noch ein letzter psychologischer – und pragmatischer! – Hinweis zum Schluss:
Es ist allgemein bekannt, dass der langfristige Erfolg stark vom Selbstbewusstsein des jeweiligen Sportlers abhängt. Wenn man weiß, dass man mit unsauberen Mitteln gewonnen hat, kann man seinen eigenen Leistungen nicht vertrauen.
Der kurzfristige Sieg mit unfairem Mitteln hat deshalb keine entscheidende Bedeutung für eine nachhaltige Erfolgskarriere!