Längst waren alle Teilnehmer des ATP-Turniers in Nizza auf den Platz geströmt, auf dem sich ein junger schwedischer Profi im Viertelfinale nach Ganzkörperkrämpfen und ärztlicher Behandlung in den entscheidenden dritten Satz gerettet hatte. Obwohl er kaum noch laufen konnte, sich mühsam über den Platz schleppte, hatte er das Spiel bis 4:4 und Einstand ausgeglichen gehalten. Als er mit Mühe einen kurzen Ball hinkend erreichen wollte, brach er auf dem Platz zusammen. Er blieb liegen – ein weiterer Ganzkörperkrampf. Nach den Regeln konnte er keine ärztliche Hilfe mehr in Anspruch nehmen, ohne das Spiel aufgegeben zu haben. Ein schwedischer Profikollege rannte auf den Platz und zog ihn hoch. Auch das war regelwidrig, aber weder der Schiedsrichter noch der Konkurrent des Schweden protestierten: zu aufopferungsvoll war der Einsatz des am Boden liegenden Profis vorher gewesen. Er rappelte sich wieder auf, verlor den nächsten Punkt und das Game. Auf der Bank erholte er sich soweit, dass er sogar die nächsten beiden Spiele gewann. Nach dem Seitenwechsel servierte er zum Matchgewinn. Bei 30:30 spielte sein Gegner einen Stopp. Im Stürzen schlug der Jungprofi den Ball cross und unerreichbar als Gegenstopp zurück. Matchball. Auf den Knien robbte der Jungprofi zur Grundlinie und versuchte sich zittrig zum Service aufzurichten. Als er endlich stand, schwankte er und brauchte viel Zeit, Balance zu finden. Dann spielte er einen hoch abspringenden Kick-Aufschlag, wankte seinem Ball hinterher und schlug den hoch zurückfliegenden Return seines Widersachers zwei Meter hinter der Servicelinie mit einem Topspin-Volley tödlich in das offene Feld. Sieg. Er brach wieder zusammen. Seine jubelnden skandinavischen Kollegen – unter anderen die Grand-Slam-Sieger Wilander und Edberg – stürmten auf den Platz und trugen den Sieger zur Bank.
Der junge Schwede hieß Kent Carlsson. Eineinhalb Jahre später war er die Nr.6 der ATP-Weltrangliste. Ein unermüdlicher Grundlinienspieler, den die Konkurrenten wegen seiner hohen Top-Spin-Schläge fürchteten. Er war zäh, unermüdlich und hatte eine unbezwingbare Widerstandskraft und Siegeswillen. Schnell laufen konnte er auf seinen dünnen staksigen Beinen nie – eine schwere und langwierige Kinderlähmung in jungen Jahren hatte das für die weitere Zukunft verhindert. Kein Arzt hätte sich damals vorstellen können, dass dieser Junge später einmal zu besten Tennisspielern der Welt zählen würde.
Wir haben diese Geschichte, die sich vor mehr als 20 Jahren abgespielt hatte, erzählt, weil sie typisch für eine Eigenschaft ist, die gerade im Spitzentennis von entscheidender Bedeutung ist: die Resilienz. In der Psychologie und Soziologie wird Resilienz als Fähigkeit begriffen, einer deprimierenden Situation zu widerstehen und wieder in das volle Leben zurück zu kehren. Diese resilienten Menschen richten in einer ausweglos erscheinenden Situation trotzdem optimistisch den Blick nach vorn, lassen alle Probleme abprallen und verwerten vor allem das, was konstruktiv ist. Diese widerstandskräftigen Menschen sind Kämpfertypen, die sich nicht unterkriegen lassen und nach Rück- oder Niederschlägen die Ärmel hochkrempeln, statt zusammenzubrechen. Der Begriff „Stehaufmännchen“ kann als einleuchtendes Bild für diese Erfolgsmenschen gelten. In der Gegenwart ist Resilienz von den Wissenschaftlern als herausragende Fähigkeit im modernen Lebenskampf erkannt worden. Entdeckt wurde diese außerordentliche Widerstandskraft bei Untersuchungen in den Favellas, in den Viertel der Ärmsten in den Großstädten Brasiliens. Es wurde auffällig, dass, obwohl die Meisten an den Problemen zerbrachen und kriminell wurden, andere gerade an diesen widrigen Umständen wuchsen und später herausragende Erfolgskarrieren starteten.
Heute hat man erkannt, dass psychische Widerstandsfähigkeit nicht nur in Extremsituationen, sondern grundsätzlich von Vorteil ist. Diese Regel gilt insbesondere für das Wettkampftennis. Resilienz ist die Eigenschaft, die im Turniermatch die Spreu vom Weizen trennt. Im „Auf und Ab“ eines Tennismatches auf Augenhöhe, ist man immer wieder gezwungen, sich nach Rückschlägen erneut aufzurichten. Man darf nicht an der Stärke des Gegners verzweifeln, sondern muss konstruktiv nach Lösungen suchen, um das „Momentum“ zu drehen. Man darf nicht jammern über eigene Fehler, sondern muss selbstbewusst neue Fähigkeiten entwickeln, um zum Triumph zu gelangen.
Resilienz ist im Tennis die Eigenschaft, in der sich Siegertypen von den talentierten Konkurrenten absetzen. Deshalb sollte diese Fähigkeit viel stärkere Aufmerksamkeit im Tennistraining finden. Resilienz ist nicht allein eine genetische Disposition, sondern kann erlernt werden, wie die Psychologen und Soziologen längst erkannt haben.
Aktuell stellen sich viele Tennisfans die Frage, warum der Weltranglistenzweite Novak Djokovic sich die Dienste von Boris Becker als Coach gesichert hat. Eine Antwort darauf könnte die Erkenntnis seitens des Serben sein, mit Becker den ehemaligen Tennisspieler verpflichtet zu haben, der wie kaum ein Zweiter in engen Situationen sein stärkstes Tennis spielte. Unvergessen sind die Fünf-Satz-Krimis, die Becker nach 0:2 Satzrückstand noch umbiegen konnte. Mit dem Rücken zur Wand wuchs Boris regelmäßig über sich hinaus. Resilienz war charakteristisch für das Spiel von Boris Becker.
Diese Fähigkeit ist bei der Leistungsdichte der Top 5 heutzutage wichtiger denn je, will man in den Finals der großen Championships als Sieger vom Platz gehen. Und für den Djoker zählt in der Saison 2014 nur die Rückkehr an die Spitze der Weltrangliste
Im nächsten Post werden wir Möglichkeiten darstellen, wie man diese Fähigkeit trainieren kann. Zum Ausklang dieses Textes verweisen wir auf die Wettkämpfe zwischen Nadal und Djokovic bei den Australian Open 2012 und bei den US Open 2013, in denen deutlich wurde, welche entscheidende Bedeutung Resilienz im Spitzentennis hat. Allein der Ballwechsel, den wir euch hier vorführen, zeigt beispielhaft diese enorme Widerstandskraft, die beide Stars kennzeichnet.
Traditionelle User unseres Blogs kennen diese Szene schon. Sie sollten ihre Achtsamkeit beim Sehen dieses Clips darauf richten, wie in schwierigen Situationen beide Spieler immer noch eine Möglichkeit fanden, ihrem Gegenüber auf der anderen Netzseite noch vor neue Probleme zu stellen.